Von Stettin nach Berlin
Hier ist meine Geschichte. Allerdings nicht von mir selbst verfasst. Ich habe jemanden darum gebeten, ganz subjektiv einen Flickenteppich aus meinen biographischen Daten, trockenen Angaben und etwas bunteren Details und Anekdoten zu weben. Ergänzt wird dieses Mosaik durch eine Foto-Galerie von den Covers meiner Bücher.
Brygida Helbig
Manchmal auch: Brigitta Helbig-Mischewski, Künstlername: Anna Maria Birkenwald, zweisprachige Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, bis 2021 Professorin der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, Dr. habil. Geboren in Stettin, lebt in Berlin.
Kindheit, Jugend und die Ausreise nach Deutschland
Ihre Kindheit verbrachte sie im polnischen Szczecin (Stettin). Dort besuchte sie das Allgemeinbildende Lyzeum Nr. 2, bekannt für den dort herrschenden künstlerischen, freien Geist. Nach dem Abitur begann sie an der Pädagogischen Hochschule (der späteren Stettiner Universität), polnische Philologie zu studieren.
Im Alter von knapp 20 Jahren reiste sie nach Westdeutschland aus. In den frühen Morgenstunden eines düsteren Novembertages 1983 stieg sie am Bahnhof Wanne-Eickel in Nordrhein-Westfalen aus dem Ost-West-Express aus und landete zunächst in der Kleinstadt Herten im Ruhrgebiet. Einige turbulente Monate später zog sie nach Anrath bei Krefeld ins Internat und lernte dort Deutsch als Stipendiatin der Otto-Benecke-Stiftung. Anschließend besuchte sie ein Kolleg für Spätaussiedler in Geilenkirchen, wo sie im Jahr 1985 das deutsche Abitur nachholte, um ihr Studium in Deutschland fortsetzen zu dürfen. Es folgte das Studium der Slawistik und Germanistik an der Ruhr-Universität in Bochum, [MOU1] und schließlich 1994 die Doktorwürde, die sie für Ihre Arbeit über die charismatische polnische Humanistin Maria Janion und die Danziger Literaturkreise der 1970er und 1980er Jahre im Kontext der New-Age-Bewegung erhielt. Ein Buch über eine große Frau, die in ihren Schriften Wissenschaft mit Intuition, Erkenntnis mit gesellschaftlicher „Therapie“ zu verbinden suchte und grenzüberschreitende Künstlerbiographien erforschte.
Literarisches Debüt
Die Anfänge der literarischen Laufbahn Helbigs reichen zurück in die Studienzeit an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie gemeinsam mit Michael Fleischer und Magda Telus den Literaturclub „Dichter-Fressen“ ins Leben rief.
Die ersten literarischen Texte von Brygida Helbig erscheinen Mitte der 1990er Jahre in der Zeitschrift „FA-art“. Aus den Fragmenten einer dort veröffentlichten Erzählung über das Aufwachsen einer jungen Frau im sozialistischen Polen entsteht kurz danach Helbigs poetischer, experimenteller Debüt-Roman „Pałówa“ („Knüppelschlacht“) und wird im Jahr 2000 im Danziger Verlag „b1“ veröffentlicht.
Ihre Gedichte und Rezensionen erscheinen in dieser Zeit u.a. in der polnischsprachigen Literaturzeitschrift des Berliner Clubs der polnischen Versager „Kolano“.
Neben den „Versagern“ gehört der Übersetzer Henryk Bereska zu den ersten Persönlichkeiten in Berlin, mit denen sie Freundschaft und gemeinsame Projekte verbinden.
Gleichzeitig arbeitet sie weiter an ihrem wissenschaftlichen Werdegang. Im Oktober 1994 nimmt sie ihre langjährige Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin auf, zunächst als wissenschaftliche Assistentin von Prof. Heinrich Olschowsky. Ihre Schwerpunkte sind polnische Literatur des 20 Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Geschlechterbilder, Migrantenliteratur. Dort habilitiert sie sich 2005 mit einer Monografie über die hochbegabte, in ihrer Jugend zutiefst traumatisierte Autorin der Jahrhundertwende Maria Komornicka, eine (wie es Maria Janion ausdrückte) illegale Person der polnischen Literaturgeschichte, die 1907 die Identität ihres Ahnherren Piotr Włast annahm und sich damit zum Mann erklärte. Anschließend verbrachte sie Jahre in der geschlossenen Psychiatrie. Im letzten Jahr ihres Lebens scheint sie zu ihrer weiblichen Identität zurückgekehrt zu sein. Buchen.
Es folgen Tätigkeiten als Gastprofessorin an der Karlsuniversität Prag und der Universität Stettin, mit den Schwerpunkten interkulturelle Kommunikation, autobiographisches Schreiben, Trauma. Sie arbeitet interdisziplinär. Immer stärker verbindet sie literaturwissenschaftliche Perspektive mit der psychologischen. In den Jahren 2013-2021 ist sie Professorin der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań und arbeitet u.a. am Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut am Collegium Polonicum in Słubice. Mit Małgorzata Zduniak-Wiktorowicz gibt sie den zweisprachigen Band „Migrantenliteratur im Wandel“ heraus.
Wissenschaftliche Tätigkeit
Brygida Helbigs wissenschaftliche Arbeiten und publizistische Beiträge aus den Bereichen der Literatur- und Kulturgeschichte, interkulturelle Kommunikation, Geschlechterforschung, Literatur und Psychologie, erscheinen in zahlreichen wissenschaftlichen Periodika, u. a. in:
- „Zeitschrift für Slawistik“,
- „Anzeiger für slawische Philologie“ ,
- „Teksty Drugie“,
- „Pamiętnik Literacki“
- „Twórczość“,
- „Pogranicza“,
- „Odra“.
Als Feuilletonistin arbeitet sie mit der polnischsprachigen Redaktion von Radio Cosmo (früher Radio Multikulti) zusammen. In ihren Beiträgen teilt sie, oft mit satirischen Mitteln, ihre aktuellen Beobachtungen zur Kultur, Politik und Gesellschaft im deutsch-polnischen Kontext.
Sie publiziert auch u.a. bei „Tagesspiegel”, „ZEIT ONLINE”, „Gazeta Wyborcza”, natürlich auch bei „Kurier Szczeciński“.
Themen, die sie in ihren wissenschaftlichen Texten auf eine spannende, „menschliche“ Art und Weise aufgreift:
- Migrantenliteratur, geschrieben von Polen*innen in Deutschland
- Maria Komornicka /Piotr Włast – Wahnsinn, Transgender, Trauma?
- Große Frauen und Weiblichkeit in der polnischen Literaturgeschichte
- Geschlechterbilder, Krise der Männlichkeit
- Transgenerationales Trauma in der polnischen und deutschen autobiographischen Literatur der Gegenwart (Kriegsenkel-Problematik, Auseinandersetzung mit realem Sozialismus)
- Polnische Literaturgeschichte des 20. Jhs. (Wisława Szymborska, Olga Tokarczuk, jüdische Autoren wie Bruno Schulz oder Bolesław Leśmian)
- Das (ost)deutsche kollektive Unterbewusstsein, dazu auch Interviews mit Hans Joachim Maaz, z.B.
- Interkulturelle Kommunikation im deutsch-polnischen Kontext. Wie kann authentische, friedvolle Kommunikation gelingen?
Das weitere literarische Werk von Brygida Helbig
2005 erscheint der groteske Mini-Roman „Engel und Schweine” („Anioły i świnie. W Berlinie!“), mit dem Brygida Helbig der literarische Durchbruch gelingt. Dabei geht es um die Abenteuer einer polnischen Spätaussiedlerin in der BRD. Das Buch trägt Züge eines Campus-Romans und parodiert den „slawistischen“ Universitätsalltag in Bochum und Berlin. Auf der Grundlage dieser Satire entsteht das Theaterstück „Pfannkuchen, Schweine, Heiligenscheine“, das von Janina Szarek am Berliner Teatr Studio am Salzufer inszeniert wurde.
2010 erscheint im Stettiner Verlag „Forma“ der polnischsprachige Gedichtband mit dem deutschen Titel „Hilfe“ – eine witzige, selbstironische, tiefgründige, „psychoanalytische“ Lyrik über das Frausein, Weiblichkeit, transgenerationale Wunden und Verletzungen.
Der nächste Prosa-Band „Ossis und andere Leute“ („Enerdowce i inne ludzie“) schafft es 2012 auf die Shortlist des renommierten Literaturpreises Nike, sowie ins Finale des Literaturpreises „Gryfia“.
Auch der Herkunfts- und Familienroman „Kleine Himmel” („Niebko“) erreicht 2014 das Nike-Final. Es ist der persönlichste Roman der Autorin, inspiriert von den Schicksalen ihrer Eltern – einer Polin aus dem Osten, die im zweiten Weltkrieg nach Kasachstan verschleppt wird und eines Galiziendeutschen, dem die Flucht aus Warthegau nicht gelingt. Sie begegnen sich nach 1945 in Stettin. Helbig setzt hier auch ihre eigene Kindheit ins Bild und zeigt, wie sich die Traumata der Kriegskinder auf die Kriegsenkel auswirken. 2016 wird der Roman in Wien mit der Goldenen Eule ausgezeichnet.
2016 erscheint Helbigs biographischer Roman über Maria Komornicka/Piotr Włast – „Inna od siebie“ (Das Andere in mir), der für den Literaturpreis der Stadt Warschau nominiert wird. Auf der Grundlage des Romans entsteht das Theaterstück „Maria K.“ (Regie: Agnieszka Bresler).
Die Biographie von Maria Komornicka/Piotr Włast wurde bereits im Jahr 2004 zum Thema ihrer Habilitationsschrift „Ein Mantel aus Sternenstaub. Geschlechtstransgress und Wahnsinn bei Maria Komornicka“. Ihre polnische Fassung „Strącona bogini“ („Gestürzte Göttin“) wurde mit dem Preis des Rektors der Universität Stettin ausgezeichnet.
Helbig gehört zu den wichtigsten Komornicka/Włast-Forscherinnen in Polen. Was sie an der Figur fasziniert, ist ihre Mehrdimensionalität. Ihre Geschichte entzieht sich einer eindeutigen, vorschnellen Interpretation. Ein tragischer Fall von Traumatisierung einer genialen Autorin und anschließend ihrer Pathologisierung und Marginalisierung? Ein besonderer Fall von lange unerkannter Transsexualität?
Populärwissenschaftliche Tätigkeiten, Kurse, Beratungen
Sie ist Mitglied des Wissenschaftlichen Rates und Moderatorin der „Universität der Drei Generationen in Berlin“, deren Entstehung sie aktiv begleitete. Die Einrichtung definiert sich als eine Plattform für Dialog und Gedankenaustausch zwischen Polen und Deutschland.
Helbig war auch mehrere Jahre Mitglied der Jury des Wissenschaftlichen Förderpreises der Volksrepublik Polen.
Einige ihrer polnischen Bücher wurden unter ihrer Mitwirkung ins Deutsche übersetzt.
Brygida Helbig ist eine Grenzgängerin – entwurzelt und gleichzeitig doppelt beheimatet. Dankbar für die Möglichkeit, eine andere Kultur von innen und die eigene von außen erleben zu dürfen. Und dann wieder andersherum.
Preise, Nominierungen, Stipendien
- 1991-1994 Doktorandenstipendium der Stipendienstiftung der Deutschen Bischofskonferenz „Cusanuswerk” in Bonn
- 2000-2002 – Preise für Gute Lehre der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin
- 2011 - Stipendium der Stiftung des Polnischen Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe für den Roman “Kleine Himmel” („Niebko“)
- 2011 – Wissenschaftlicher Preis des Rektors der Stettiner Universität für die Monografie über Maria Komornicka/Piotr Włast „Gestürzte Göttin“ („Strącona bogini“)
- 2012 – Nominierung für den Literaturpreis Nike für den Erzählband „Ossis und andere Leute“(„Enerdowce i inne ludzie”)
- 2012 - „Ossis und andere Leute” im Finale des Literaturpreises Gryfia
- 2013 – Nominierung für Śląski Wawrzyn Literacki in Katowice für „Kleine Himmel”
- 2014 – Finalistin des Literaturpreises Nike für “Kleine Himmel“
- 2016 – Preis für Auslandspolen „Goldene Eule“ in Wien für “Kleine Himmel“
- 2017 – Nominierung für den Literaturpreis der Stadt Warschau für den Roman „Inna od siebie” („Das Andere in mir“)