Meine Meister

Die wilde Maria Janion. Eine Erinnerung.

Nach der Lektüre meines Debütromans „Pałówa” sagte Professor Maria Janion zu mir – Sie sind ja wild! Das war mit Abstand das schönste Kompliment, das ich je gehört habe.
Maria Janion Gorączka romantyczna

Mein Versäumnis

„Wildsein“, „Anderssein“ – Janions Leitsterne, die auch mich schon immer angesprochen haben… Ich habe es leider nicht geschafft, diese herausragende polnische Gelehrte an ihrem Lebensende nochmal zu besuchen und ich kann mir das nicht verzeihen. Noch einmal in ihrer kleinen Warschauer Wohnung im sozialistischen Bau in der Niemcewicza Straße zu verweilen, wie damals, in den 1990ern, als ich zu ihr kam als Autorin eines Buches, in dem sie die Hauptrolle spielte – meiner Dissertation.

Wie schön wäre es, noch einmal dort zu sitzen, zusammen mit ihren Schülerinnen, Kazia Szczuka, Basia Smoleń, Iza Morska, Bożena Keff… Nun, ich habe es nicht mehr geschafft. Und ich habe ihr meinen letzten Roman über „Inna od siebie“ („Mein anderes Ich“) nicht gewidmet, obwohl ihre Bücher die Initialzündung bei meiner Beschäftigung mit der genialen Persönlichkeit Maria Komornicka/Piotr Włast waren. Schuld an diesem Versäumnis irgendein Missverständnis in der Kommunikation mit dem Verlag. So schade.

Professor Maria Janion, eine große Kennerin der Literatur und Kultur, Forscherin der Romantik und eine wahre Meisterin, starb am 23. August in Warschau im Alter von 93 Jahren. Sie starb in ihrer Wohnung, vollgestopft mit Büchern und Papieren, mit einem Buch in der Hand, so wie sie sich immer gewünscht hatte. So erzählt darüber Kazia Szczuka, eine ihrer Schülerinnen, die sie bis zum Tod begleiteten. Janion hatte weder Mann noch Kinder, ihre Familie waren Schüler, Schülerinnen und Freundinnen. Ihre Arbeit war ihr Leben, beides war nicht voneinander zu trennen. So scheint es zu sein, wenn wir unsere Arbeit leidenschaftlich lieben.

Maria Janion im Interview mit Kazimiera Szczuka, ein Dokument aus der Reihe „Individuelle Gespräche“ auf dem Portal „Ninateka“

Geistige Doktormutter

Auf die Bücher von Maria Janion bin ich erstmals beim Schreiben der besagten Doktorarbeit an der Ruhr-Universität Bochum gestoßen. Ich schrieb über den New-Age-Diskurs u.a. in den Werken von Janion („New-Age-Diskurs in der polnischen Literaturwissenschaft, Literaturkritik und Lyrik der 70er und 80er Jahre“, München 1995).

Eigentlich sollte ich über die lyrische Strömung der 1970er Jahre in Danzig – „Neue Privatheit“ schreiben. Mein inoffizieller Doktorvater wies mich jedoch darauf hin, dass es unmöglich sei, dieses Thema zu behandeln, ohne den mächtigen Einfluss von Janion auf diese Bewegung zu berücksichtigen, die das gesamte Danziger Milieu in der Zeit des historischen politischen Wandels in Polen und Europa prägte und den intellektuellen Boden für diesen Wandel bereitete. Er – ein leidenschaftlicher Konstruktivist, der für eine empirisch-wissenschaftliche Literaturwissenschaft eine Lanze brach – sprach zwar mit Respekt über ihre Leistungen, und doch mit einer spürbaren Ironie. Er bevorzugte den polnischen rationalistischen Positivismus als literarische Epoche und als geistiges Erbe, sie hingegen liebte die Romantik. Sie hatten ein völlig anderes Verständnis von den Aufgaben der Geisteswissenschaften. Mein Professor wünschte sich, dass ich Maria Janion als mein Forschungsobjekt distanziert betrachte, er bemängelte ihre angebliche Emotionalität, ihre „weibliche“ Art, Wissenschaft zu betreiben.

Das Gegenteil war der Fall. Ich habe alle ihre Bücher mit brennenden Wangen verschlungen. Maria Janion verstand die Wissenschaft integral, verband das Rationale mit dem Intuitiven. Es waren keine gewöhnlichen, rein intellektuellen wissenschaftlichen Untersuchungen, es waren philosophische Abhandlungen und zugleich beste Literatur, voller anregender und einprägsamer Metaphern und Bilder, kultureller Bezüge, geschrieben mit echter Leidenschaft, vom Intellekt und der Belesenheit ganz zu schweigen. Dabei analysierte die Wissenschaftlerin nicht nur Erscheinungen, sondern gab uns auch die Möglichkeit, das sprechende Subjekt selbst, also sie, Maria Janion, ihre eigene Perspektive, den Ort, von dem aus sie sprach, kennenzulernen. Zu diesem Gestus ermutigte sie stets auch ihre Studentinnen und Studenten. Ich verstand, dass mich das, was und wie sie schreibt, viel mehr fesselt als die Bücher der deutschen Slavistinnen und Slavisten, auch wenn ich meine Lehrstunden bei ihnen zu schätzen weiß.

Doch das war eine völlig andere Welt! Ich versank in ihr und Janion wurde meine geistige Doktormutter. Ich erlag, wie ihre Schülerinnen sagen, ihrer „Vampirisierung“. Sie war eine außergewöhnliche Lehrerin, junge Menschen fühlten sich zu ihr hingezogen, weil sie sie ernst nahm, sie hat sie wirklich gesehen, und öffnete sich auch selbst, hatte davor keine Angst. Sie forderte, legte die Messlatte hoch, schenkte uns aber auch unendlich viel von sich. Sie lehrte Mut, unabhängiges Denken, Hinterfragen, Rebellion, Entschlossenheit.

In meiner Dissertation fand ich damals einige Parallelen zwischen Janions Denken und der spirituellen New-Age-Bewegung, die einen Wechsel des kulturellen Paradigmas in der westlichen Welt vorbereitete, eine Hinwendung zu einem ganzheitlichen Weltbild, die Verbindung von intellektueller und intuitiver Weltsicht, von Erkenntnis und Therapie, von Wissenschaft und Spiritualität. In ihrer ambitioniertesten Version bereitete die Bewegung den Boden zur Interdisziplinarität, zu einer ganzheitlichen Sicht der Welt, zur Herstellung von Beziehungen zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft, Mystik, Religion, zur Erforschung des kollektiven Unterbewusstseins, das in Legenden, Märchen, Mythen, Volkskultur schlummert, aber auch in die „hohen“ Kultur gebannt ist. Sie sollte auch der Aufhebung der Barriere zwischen der Welt der Menschen und der Welt der „Geister“ führen; der Barrieren zwischen dem Alltäglichen und dem Metaphysischen, dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis, dem Menschlichen und dem Göttlichen. Und schließlich – zwischen den kanonischen Texten der Kultur, Literatur und Religion und den verfluchten, vergessenen und apokryphen Texten, die Janion ans Tageslicht brachte und überzeugend aufwertete.

Priesterin der illegalen Spiritualität

Die New-Age-Bewegung und Janions Interessen aus der Danziger Zeit sind auch Gnostizismus und „illegale“ Spiritualität, weit entfernt von den versteinerten Religionen. Maria Janion war die Priesterin einer solchen Spiritualität, auch wenn sie von „Geistern“ eher in einem metaphorischen Sinne sprach. Ich bin übrigens der Meinung, dass auch die New-Age-Bewegung in Metaphern spricht, der Unterschied zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung spielt dann keine Rolle mehr. Natürlich ist die New-Age-Bewegung sehr vielfältig, ihr Spektrum reicht von verflachten Spekulationen, der sogenannten „Flachland-Spiritualität“ (Ken Wilber) bzw. Wellness-Spiritualität bis hin zu intellektuellen Höhenflügen und einem tiefgreifenden und bedeutungsvollen Projekt der sozialen und spirituellen Transformation. Und natürlich lässt sich nur ihre ambitionierteste Strömung bis zu einem gewissen Grad mit Janions Projekt in Zusammenhang bringen.

Es gibt natürlich auch viele gravierende Unterschiede zwischen Janions Theorien und den New-Age-Ideen, allein schon durch die Betonung der Tragik und der Zerrissenheit der menschlichen Existenz, ihrer Flüchtigkeit, der Zufälligkeit des Daseins in Janions Schriften. Die Gelehrte findet keine Zuflucht in der „heiligen Ordnung“ aller Dinge, sie bleibt ungetröstet. Keine göttliche Instanz spendet ihr Trost, wenn schon, dann nur Kunst und Wissenschaft.

Ich weiß nicht, inwieweit ich mit meiner Doktorarbeit richtig lag. Ich glaube aber, dass ich etwas Wichtiges entdeckt habe, obwohl ich jung war und mich – zumindest formal – weitgehend an den Vorgaben meines Professors und den akademischen Richtlinien orientieren musste. Die Ausdrucksfreiheit, auch in der Wissenschaft, habe ich erst allmählich, Schritt für Schritt gelernt.

So begann mein Abenteuer mit Maria Janion. Ich war fasziniert von ihrer siebenbändigen Reihe „Transgressionen“ (1981-1988), die sie zusammen mit ihren Schülern, u.a. mit Stefan Chwin und Stanisław Rosiek herausgab und die ihr berühmtes Seminar begleitete. Insbesondere Themen wie Schizophrenie und Antipsychiatrie (Szasz, Laing, Cooper), haben es mir angetan. Da ging es beispielsweise darum, dass unsere Gesellschaft, das Mittelmaß fördert, herausragenden Individuen Wahnsinn zuschreibt, sie entmündigt oder kolonisiert. Da ging es um  die Repressionen, die von verschiedener Institutionen praktiziert werden, angefangen bei der Familie und der Kirche. Da ging es um sogenannte „Märtyrer des Daseins“, jene seltsamen, „wilde“ Individuen, die nach ihren eigenen Vorstellungen leben, u.a. über Maria Komornicka – Piotr Włast, über die ich später meine Habilitationsschrift (auf Deutsch: „Ein Mantel aus Sternenstaub“, auf Polnisch: „Strącona bogini“) und den bereits erwähnten Roman „Inna od siebie“ widmete. Janions Biss, die „Vampirisierung“ wirkte kontinuierlich. Sie wirkte Wunder.

Das Mädchen mit Ball und Stock

Janion selbst war übrigens auch „anders“, galt oft, schon in der Kindheit, als seltsam, später sogar als eine Art „Freak“, wie sie Kazimiera Szczuka in den Interviews erzählte („Transe, traumy, transgresje“ [Trancen, Traumata, Transgressionen], Bd. 1 „Niedobre dziecię“ [Böses Kind], Bd. 2 „Profesor Misia“ [Professor Misia]). Sie hatte ernsthafte Probleme in der Schule, war eine schlechte Schülerin. Herausragende Menschen wie sie interessieren sich oft überhaupt nicht für die Schule. Und eigentlich sind alle Menschen herausragend.

Seit ihrer Jugend in Vilnius lebte Janion ihre Leidenschaft. Das erste erhaltene Foto von ihr zeigt ein resolutes Mädchen mit einem Ball und einem Stock, von dem sie sich nie trennte. Am wohlsten soll sie sich in Gesellschaft von „Gassenjungen“ gefühlt haben. Sie liebte das Rumwühlen im Dreck. Später dann verschlang sie massenhaft Bücher. Im Interview bezeichnet sie sich selbst als „wildes Kind“, also ein Wesen, dessen Instinkte noch nicht durch Erziehung und Sozialisation zerstört wurden, das mit sich selbst und der Welt noch im Einklang ist.

So erzählt es Janion im Interview, schreckt dabei nicht vor Selbstironie und Ironie zurück. Ihrer Schülerin wirft sie vor, sie wolle Janion in ihrem Interview als „pittoreskes Monster“, als Kuriosum, und ihre Wohnung als „Hexenhöhle“ darstellen.

Was für eine Erleichterung für all diejenigen, die sich schon immer anders und unverstanden gefühlt haben. Dabei hatte Janion, wie sie selbst betont, zum Glück eine liebevolle Mutter, die ihren Bruder niemals bevorzugte, auch was die Bildung betrifft. Sie glaubte daran, dass ihre Tochter es weit bringen würde. Das war von großer Bedeutung.

Ein Guru der Jahrtausendwende

Was hat mir die Lektüre ihrer Bücher damals, in den 1990er Jahren, gebracht? (Und ich habe sie alle gründlich studiert und in meiner Doktorarbeit vorgestellt.) Nun, dank Maria Janion habe ich verstanden, was z.B. die Medikalisierung von seelischen Konflikten ist, die Enteignung des Menschen von seiner seelischen Krankheit, die ihm wichtige Entdeckungen im Leben ermöglichen könnte, wenn man sie nicht vorschnell unterdrücken würde. Dies war eins der Hauptthemen der Serie „Transgressionen“. Dort nämlich las ich über die Fallen der pharmakologischen „Heilung“ des Menschen von der Suche nach dem Sinn des Lebens, die Fallen der medizinischen Behandlung von existenziellem Hunger…

Ich las über die Galeerensklaven der Empfindsamkeit, über jene, denen eine rein äußerliche, korrekte Biografie nicht genügt, die danach trachten, diese in Existenz zu verwandeln, wie die Künstlerinnen Maria Komornicka oder Stanisława Przybyszewska. Mich faszinierte es, wie Janion in die Tiefe dringt, nach verdrängten Wahrheiten sucht, Schleier einreißt. Ich liebte ihre Analysen der polnischen Nationalmythen, der Untiefen des kollektiven Unbewussten, des Bösen und Schmerzhaften, das im Verborgenen wirkt und sich in Kunst und Literatur in Gestalt von Vampiren, Dämonen, Gespenstern, Leichen im Keller zu erkennen gibt.

Nicht umsonst liebte Maria Janion die Epoche der Romantik, auch der deutschen Romantik. Nicht umsonst las sie (schon zur sozialistischen Zeit) leidenschaftlich französische und deutsche Zeitschriften, Weltliteratur… Die Titel ihrer Werke sprechen für sich: „Im Angesicht des Bösen“, „Frauen und der Geist des Andersseins“, „Vampir. Symbolische Biographie“, „Held, Verschwörung, Tod. Jüdische Vorträge’“. Für Maria Janions Schülerinnen war sie fast wie ein Guru (deshalb habe ich einmal einen Artikel über sie als „Guru der Jahrtausendwende“ betitelt). Sie betonten gern, dass sie an Weihnachten, am 24. Dezember, geboren wurde, und waren davon überzeugt, dass sie uns „erlöst“. Ich war da am Anfang zugegebenermaßen etwas skeptisch bis ich es mir auf meine Art erklärt habe. Janion „erlöst“ in uns das Unaussprechbare, Verdrängte, Verfluchte, das, was in uns ein finsteres, unterirdisches, dämonisches Leben führt. Indem sie es benennt, indem sie ein passendes Wort, Bild, eine Metapher dafür findet, bringt Janion das Unbewusste ins Bewusstsein und schafft aus emotionalen Impulsen eine intellektuelle Bewegung.

Freidenkerin

Was Professor Janion gelehrt hat, ist so tiefgreifend, dass es  sich nicht politisch instrumentalisien lässt, um aktueller Schlachten willen. Ihre Texte lassen sich nicht vor eine Ideologie vorspannen. können nicht nicht gezähmt und oberflächlich gemacht werden. Einige Leute versuchen es trotzdem, doch die Worde der Wissenschaftlerin widerstehen diesen Versuchen. PO ist nur in „technischer Hinsicht“ progressiv, während PIS alles auf eine aufdringliche politische Manipulation reduziert – so lese ich es in den Interviews „Transe, traumy, transgresje“.

Maria Janion, kämpfte nie primär gegen etwas, sondern immer für etwas, sie schuf eine freidenkerische Atmosphäre, die per Definition allen Dogmen und Totalitarismen fernbleibt. Sie hielt sich weniger an die oberflächlich verstandene, von wem auch immer „verordnete“ aktuell-politische Korrektheit, sondern schöpfte aus breiteren kulturellen Zusammenhängen und schuf Kategorien, die halfen, die Gegenwart auf ihrer tiefsten Ebene zu interpretieren und ohne Hass und Verachtung gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

In den 1970er und 1980er Jahren wirkte sie rebellisch in einer ganz besonderen Zeit und an einem ganz besonderen Ort, in Danzig, innerhalb einer Institution, einer Universität, in der Ära des realen Sozialismus, indem sie die repressive Struktur quasi von innen heraus sprengte, einfach „ihr eigenes Ding“ machte, kritisches Denken, Bewusstheit, Respekt vor der Freiheit und letztendlich  „Wildheit“ lehrte. Eine auch heute besonders wirkungs- und friedvolle Art, auf die Welt Einfluss zu nehmen.

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